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Bilaterale mischen Milieu neu auf
Die Personenfreizügigkeit mit der EU wird von Prostituierten rege genutzt: Im Kanton Genf ist deren Zahl gemäss Sittenpolizei in zwei Jahren von 837 auf 1351 angestiegen.
Von Richard Diethelm, Genf
Wie gut nimmt der Staat seine Aufgaben wahr - zum Beispiel auf dem Gebiet der Prostitution?, fragten sich die beiden jungen Genfer Politologen Olivier Pifferini und Amir Moradi. «Wir wählten dieses Thema für unsere Lizenziatsarbeit, weil Prostitution ein Tabu der Genfer Politik ist», sagt der 25-jährige Pifferini mit einem Schmunzeln auf den Lippen, «und weil in Frankreich Innenminister Sarkozy dies zu einem grossen Thema gemacht hat.»
Im Kanton Genf ist die Zahl der bei der Sittenpolizei gemeldeten Prostituierten ab Juni 2004 sprunghaft angestiegen, von 837 auf 1177 oder mehr als 40 Prozent innerhalb eines Jahres. Bis Juni 2006 hat deren Zahl weiter auf 1351 zugenommen. Anfang der 1990er-Jahre waren erst 277 Prostituierte registriert gewesen. Derzeit dürfte Genf gegen 2000 Prostituierte zählen - rechnet man Tänzerinnen in Kabaretts und andere Frauen ein, die illegal Sex anbieten.
Inländervorrang gefallen
Den abrupten Übergang von einem kontinuierlich zu einem exponentiell wachsenden Angebot im Rotlichtmilieu führen Pifferini und Moradi unter anderem auf das bilaterale Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU zurück. Seit dem 1. Juni 2004 dürfen kantonale Behörden gegenüber arbeitswilligen Migranten (also auch Prostituierten) aus den 15 alten EU-Staaten nicht mehr geltend machen, es habe bereits genügend Anbieter auf dem einheimischen Markt. Nach dem Wegfall dieses so genannten Inländervorrangs erhielten Ausländerinnen aus dem EU-Raum das Recht, bis zu 90 Tage pro Kalenderjahr ihre Sexdienste in der Schweiz als selbstständig Erwerbende ohne weitere Überprüfung anzubieten. Sie müssen dies bloss den Behörden melden.
Einen Teil des starken Zulaufs zu ihren Schaltern führt die Genfer Sittenpolizei denn auch darauf zurück, dass unter den bisher illegal anschaffenden Prostituierten namentlich Grenzgängerinnen die Gelegenheit nutzten, ihren rechtlichen Status zu regeln. Anderseits sind deutlich mehr ausländische Prostituierte eingereist, hauptsächlich Französinnen aus weiter entfernten Regionen von Genfs Nachbarstaat.
«Eldorado für die Prostitution»
Nach den Erkenntnissen der beiden Politologen hat Genf den Ruf, ein «Eldorado für die Prostitution» zu sein. Ausländische Prostituierte finden im Stadtkanton nicht nur zahlungskräftige Kunden, sondern auch leicht Anschluss an einen der vielen Zirkel von Landsleuten. In Genf - mit einer ausländischen Wohnbevölkerung von rund 40 Prozent, mit 35 000 internationalen Funktionären und 208 diplomatischen Missionen - ist dieses Netz enger geflochten als anderswo.
Pifferini und Moradi heben noch etwas hervor: Im Vergleich zu Frankreich, das unter Sarkozy den Prostituierten das Leben schwer macht, und zu den Nachbarkantonen regelt Genf das Sexgewerbe nur mässig. Ein knappes Reglement des Staatsrates von 1994 hält lediglich fest, dass der Strassenstrich in Gegenden verboten ist, wo er die öffentliche Ordnung stören könnte, und dass sich Prostituierte bei der Sittenpolizei und beim Steueramt anmelden müssen.
Die jungen Politologen schätzten auch die Folgen der Personenfreizügigkeit mit den zehn neuen EU-Staaten ab, die seit letztem April schrittweise eingeführt wird. In Genf erwarten sie einen anhaltend starken Zuwachs der registrierten Prostituierten und vor allem eine «Umwälzung» im Sexgewerbe. «Prostituierte aus Westeuropa arbeiten relativ unabhängig», sagt der 27-jährige Amir Moradi, «in Osteuropa dagegen ist die Prostitution in mafiöse Strukturen eingebunden.»
Für und Wider Prostitutionsgesetz
Moradi und Pifferini folgern daraus, dass Genf nicht gewappnet ist «für einen möglichen Ansturm osteuropäischer Prostituierter». Sie empfehlen den Politikern, ein Prostitutionsgesetz zu schaffen, um einer Infiltration des organisierten Verbrechens vorzubeugen.
In Anlehnung an Gesetze in den Kantonen Waadt und Neuenburg regen sie Bestimmungen an, die jeder Person garantieren, dass sie frei über ihren eigenen Körper verfügen kann - und somit nicht zur Prostitution gezwungen werden darf. Ferner soll das Gesetz verhindern, dass Prostituierte Opfer von Missbräuchen werden, und Bedingungen schaffen, die den Schutz der Gesundheit und physischen Integrität der Sexanbieterinnen und ihrer Kunden gewährleisten. Schliesslich soll der Staat Frauen, welche die Prostitution aufgeben wollen, ermutigen und bei der beruflichen Neuorientierung unterstützen.
In der Genfer Direktion des Innern gibt es derzeit jedoch keine Pläne für ein Prostitutionsgesetz. In Bezug auf die bilateralen Abkommen und die Einreise von Prostituierten aus Osteuropa habe der Kanton keinen Handlungsspielraum, wehrt das Generalsekretariat ab. Pascal Byrne-Sutton, die für Migration zuständig ist, erzählt, es habe auch in Genf Stimmen gegeben, die nach einem Gesetz riefen - als etliche Amtsstellen vor der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit das Thema erörtert hatten. «Das ist häufig die erste Reaktion, wenn etwas Angst macht», sagt die Juristin, «aber es ist oft gescheiter, das bestehende Recht strikt anzuwenden.» Das Wichtigste ist für Byrne-Sutton die Meldepflicht - damit die Einreise ausländischer Prostituierter geregelt erfolgt und nicht im Schatten der Illegalität. «Der in der Statistik ausgewiesene starke Anstieg beweist, dass dies in Genf funktioniert und die Sittenpolizei im Milieu präsent ist.»
So long
Kevin2929