Die völlig seminargebührenfreie Einführungsvorlesung zum Strafgesetzbuch:
Was im Zivilrecht die Abstraktion ist, dies ist im Strafrecht die Konkretion. Das Zivilrecht ist notwendig bunter und mannigfaltiger als das Strafrecht, denn schliesslich soll es die vielen verschiedenen Sachverhalte des Lebens, das sich im allgemeinen als „Alltag“ vollzieht, regeln und so bewältigen helfen. Diese grosse Zahl verschiedenartiger Fälle lässt sich jedoch nie umfassend regeln. Daher müssen notwendigerweise allgemeinere, d. h. abstrakte Regeln aufgestellt werden, unter die so viele konkrete Sachverhalte als möglich gezählt werden können, dies erforderlichenfalls durch die Mittel der Interpretation, der Analogie oder ggf. der richterlichen Rechtsbildung. Kasuistische Gesetzgebung, die versucht, jeden erdenklichen Fall zu regeln, woran noch eine Kodifikation wie das Preussische allgemeine Landrecht sich orientierte, gilt längst als verpönt, u. a. werden solche Kodifikationen auch der sich laufend wandelnden Lebenswelt nicht gerecht und veralten somit schnell, wohingegen abstraktere Kodifikationen lange Zeit in Geltung stehen können. Umgekehrt muss auch bei der Rechtsanwendung der Weg vom Konkreten zum Abstrakten gesucht werden: Zu einem konkreten Sachverhalt muss jeweils die Frage gestellt werden, unter welche abstrakte Regel er gestellt werden kann. Der konkrete Sachverhalt muss also abstrahiert werden. Die Königsdisziplin dieser Abstraktion bildet unbestritten die Billigkeitsjustiz vor allem der (internationalen) Schiedsgerichtsbarkeit, bei der aus allgemeinsten Rechtsgrundsätzen für einen konkreten Fall Recht abgeleitet und gesprochen wird.
Im Strafrecht verhält es sich genau umgekehrt: Konkretion ist das ein und alles. Stets muss die Frage gestellt werden: Was bedeutet dies konkret? Das Strafrecht erfasst nur einen eng begrenzten Bereich menschlicher Verhaltensweisen, die als delinquent und somit strafbar definiert werden. Nur jene Verhaltensweisen werden also erfasst, die ausdrücklich diesem Bereich zugeordnet sind, alle übrigen, die grosse Mehrzahl, bilden nicht Gegenstand des Strafrechts.
Daher müssen strafrechtliche Sachverhalte ausreichend konkretisiert und in dieser konkreten Weise im Gesetz umschrieben werden. In älteren Rechtstexten finden sich daher auch solche Reihungen wie: „Wenn einer oder eine einen andern oder eine andere mit einer Waffe, einem Messer, Knüppel, mit Feuer, durch Ertränken oder auf andere Weise zu Tode bringt, …“ Um ja keinen konkreten Fall auszulassen, werden in diesen historischen Rechtstexten also alle möglichen denkbaren Varianten des strafbaren Verhaltens umschrieben, wovon man heute abgekommen ist.
Solche konkrete Umschreibungen der strafbaren Sachverhalte sind allerdings niemals konkret genug; wie im Zivilrecht stellt sich auch dabei das Problem, dass es eine im voraus kaum abschliessend zu bestimmende Vielzahl konkreter Möglichkeiten gibt, wie eine bestimmte Tat ausgeführt werden kann. Dem verdanken sich dann solche Formulierungen wie: „… oder wer in anderer Weise einen andern an seinem Vermögen schädigt …“. Also bleiben auch die Definitionen des Strafrechts auf einer gewissen Abstraktionshöhe stehen. Notwendigerweise müssen sie also, um angewandt werden zu können, weiter konkretisiert werden. Bei jeder gesetzlichen Definition ist also stets zu fragen, was sie konkret bedeute, welche konkreten Handlungsweisen, Tatbestandsmerkmale usw. darunter vorzustellen seien. Dies bedingt zugleich, dass eine anschauliche Vorstellung dessen, was das Strafrecht umschreibt, zu gewinnen ist.
Nehmen wir beispielshalber einen umstrittenen Tatbestand, der erst durch eine spätere Novelle dem Strafrecht hinzugefügt wurde: strafbare Vorbereitungshandlungen. Wie bereitet sich ein Täter auf eine Tat vor? Unsere Aufgabe ist es, den Nachweis mit Tatsachen, die belegt werden können, zu erbringen, dass ein Täter die Absicht hat, eine bestimmte Tat zu begehen, und dazu erforderliche Vorbereitungen trifft, ggf. auch den Gegenbeweis anzutreten.
Wie bereitet sich nun aber ein Täter bspw. auf einen Mord vor? Was tut er konkret? Er wird sich etwa eine Tatwaffe beschaffen, eine günstige Gelegenheit suchen, die Tat auszuführen, dazu die Gewohnheiten seines Opfers auskundschaften, den Tatort besichtigen, vielleicht auch Vorkehrungen zur Beschaffung eines Alibis treffen. Wie aber geht die Beschaffung einer Tatwaffe konkret vor sich? Es wäre beispielsweise unklug, sich eine Waffe zu beschaffen, die als solche bereits registriert ist oder als Waffe leicht erkannt werden kann. Also wird sich ein Täter vielleicht eine Waffe illegal beschaffen. Der Besitz einer illegalen Waffen könnte also ein Indiz für das Vorliegen einer strafbaren Vorbereitungshandlung darstellen.
Ohne dieses Beispiel zu Ende zu führen, wird also klar, dass im Strafrecht stets konkret gedacht und somit eine anschauliche Vorstellung gewonnen werden muss.