Scheint ein zeitungsartikeliger Monat zu werden…
Aus dem Facts…geschrieben von einer Frau.
Seltsame Dinge spielen sich auf dem Markt der käuflichen Liebe ab: Freier verlangen plötzlich nach Zärtlichkeit und Romantik, Huren sehen sich neuerdings als Menschen wahrgenommen, und Sexualtherapeuten finden das alles toll. Eine Trendanalyse aus dem horizontalen Gewerbe.
Von Monika Fahmy
Die Frau und der Mann pressen ihre Münder aufeinander, als hätten sie sich diesen Abend vorgenommen, den Rekord im Dauerküssen zu brechen. Er, schlank, Mitte dreissig, im hellen Anzug, die Krawatte gelockert, das schüttere Haar zerzaust, ist ein holländischer Geschäftsmann. Sie, Anfang vierzig, im schwarzen, dekolletierten Kleid, eine ziemlich füllige Südamerikanerin. Zwei Drinks stehen unberührt auf dem Tresen, die langen Blicke der Anwesenden nimmt das Paar nicht zur Kenntnis. So geht das eine Ewigkeit an der Bar eines Zürcher Viersternehotels – wer genau hinschaut, den beschleicht allenfalls das Gefühl, die Gesten der Dame muteten ein bisschen eingeübt an, ein wenig mechanisch gar.
«Die beiden kennen sich erst seit einer Stunde», sagt der Barman auf diskrete Nachfrage und stellt gelangweilt eine Schale Nüsschen hin. «Der Herr wird von der Dame für das Geknutsche sicher zur Kasse gebeten.»
Die Szene am Tresen illustriert die neueste Entwicklung auf dem Markt der käuflichen Liebe. Männer wollen küssen, knutschen, schmusen. Die Prostituierten bieten angesichts des immensen Konkurrenzdrucks im Gewerbe die entsprechenden Dienstleistungen an. Softpraktiken, Zärtlichkeit, parasexuelle Dienste haben Konjunktur – ein Blick in die einschlägigen Inserate-Rubriken von Schweizer Tageszeitungen bestätigt den Branchentrend: Da offeriert eine 26-jährige Chinesin namens Som «leidenschaftliches Küssen und Schmusen», da wirbt die Schweizerin Tina, 34, mit dem Versprechen «zärtliches gegenseitiges Verwöhnen bei Kerzenlicht» um Kundschaft. Und eine «dipl. Masseurin, reif, attraktiv, sexy, grosser Busen» will ihre Kunden mit «Massagen in romantischer Atmosphäre, ohne Zeitdruck!» verwöhnen.
Nachdem sich in der Vergangenheit viele Liebesdienerinnen mit Spezialkenntnissen in sadomasochistischen Disziplinen und mit dem Besitz entsprechender Gerätschaft positionierten – von der Peitsche über die Streckbank bis zum Zahnarztstuhl –, ist jetzt im Sexualgewerbe offenbar die grosse Zärtlichkeit, die inszenierte Romantik ausgebrochen. «Seit ich auch Küssen ins Sortiment aufgenommen habe, verdiene ich gut das Doppelte», sagt Miriam, eine 26-jährige Teilzeitprostituierte, die in einem gehobenen Salon im Zürcher Seefeldquartier ihrer Arbeit nachgeht. «Die Männer bleiben dann auch länger und zahlen für eine volle Stunde», erklärt die schlanke Brünette den Vorteil ihrer Angebotsdiversifikation.
Auch die Grossisten im Geschäft mit käuflicher Liebe haben die gewandelten Bedürfnisse ihrer Kundschaft erkannt, so das «Globe» (Eigenwerbung: «Der grösste und beste Erotik-Club der Schweiz»), ein zweigeschossiger, weitläufiger Sexsupermarkt in Schwerzenbach ZH.
Am Pool im Parterre räkeln sich acht Bikini-Nymphen, sie warten etwas matt auf Kundschaft. Nebenan in der Sauna schwitzt ein älterer, beleibter Herr mit grauen Koteletten einsam vor sich hin. Normalerweise sei hier am frühen Nachmittag viel mehr los, sagt Andy, ein Angestellter des Klubs. Was ist los? Was fordert die Männerwelt im «Globe» von den Prostituierten? «Eigentlich alles», antwortet Andy – aber: «Täglich rufen sicher 50 Männer an, die fragen, ob die Frauen auch lieb und zärtlich sind, ob sie auch küssen.» Für Küssen wird kein Zuschlag verlangt. Etwa die Hälfte der rund 30 jeden Tag im Bordell tätigen Sexworkerinnen bieten diesen Dienst an.
Überforderung an der Ehefront
Natürlich gibt es nach wie vor den Freiertypus, den es nach einer schnellen, harten Nummer verlangt. Neu ist aber der Wunsch nach Sexualverkehr, der eigentlich gar keiner mehr ist. «Die Männer wollen auch reden, schmusen, einen kennen lernen », sagt Kim. Die 22-jährige Österreicherin arbeitet seit vier Jahren im Fach, sie kichert unentwegt, macht auf einfältigen Teenager – es ist eine Masche, die gestandene Männer mögen. «Ich verwöhne meine Klienten zum Beispiel mit Massagen.» Selbstverständlich seien auch diese Handreichungen zärtlich, das verschaffe ihren Freiern grosse Befriedigung.
Sunny, 22, eine Deutsche, die gleichfalls im «Globe» ihr Brot verdient, berichtet sogar: «Die Männer zahlen auch, damit sie mich massieren dürfen.»
Den Psychologen und Paartherapeuten Patrick Wirz erstaunt die Wende zu vermeintlicher Zärtlichkeit kaum. «Viele Männer neigen dazu, Beziehungs- und Liebesbedürfnisse sexuell zu definieren, obwohl sie vielleicht weniger Erregung als Nähe suchen.» Dass Männer ihre Schmusebedürfnisse auch oder gerade gegen Bezahlung zu befriedigen suchen, kann für Wirz auch in einer Art Überforderung an der Ehefront ihre Ursache haben: «Die eigene Partnerin zu verführen und in erotische Stimmung zu versetzen, fällt manchen Männern schwer. Die Beziehung strengt sie an.»
Bei immer mehr Paaren seien zudem beide Partner berufstätig und sozial engagiert. «Je strenger es ein Paar im Alltag hat, desto schwieriger wird es, ein Zeitfenster für Zweisamkeit, Sinnlichkeit und Sexualität zu finden», beobachtet Wirz. Offenbar ist ein Bordellbesuch für heutige Männer einfacher zu terminieren als ein Schäferstündchen mit der festen Partnerin. Und die Prostituierte stellt ausser Geld keine Forderungen.
Bis vor kurzen war es unter Huren verpönt, ihre Klienten zu küssen. Küssen galt im Vergleich zum Geschlechtsverkehr als intimer. Es blieb der privaten Sexualität von Prostituierten vorbehalten. Dass viele Sexworkerinnen dieses Dogma – es galt auch als eine Art Ehrenkodex – fallen lassen, ist vor allem Folge des verschärften Wettbewerbs: In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der Prostituierten schweizweit von 4000 auf 12’000.
Der Schweizer Mann – eine «Niete»?
Die Mehrheit der Neueinsteigerinnen stammen aus dem Ausland: Deutschland, Österreich, den Ländern des ehemaligen Ostblocks, aber auch der Karibik; der freie Personenverkehr in der EU erleichtert vielen die Einreise in die Schweiz. Gerade Debütantinnen, die sich einen Klientenkreis erst erarbeiten müssen, sind eher bereit, Spezialbegehren ihrer Kundschaft nachzukommen: sei es Küssen, sei es womöglich auch ein riskanter Geschlechtsverkehr ohne Präservativ.
Küssen, schmusen, streicheln, reden – was üblicherweise Bestandteil einer Liebesbeziehung ist, kaufen sich Schweizer Männer heute auch auf dem so genannten Drogenstrich. «Die süchtigen Prostituierten berichten uns, dass Freier oft Zärtlichkeit einfordern», sagt Irene Brühweiler, Betriebsleiterin der Kontakt- und Anlaufstelle der Stadt Zürich. «Und einige wollen einfach nur reden.»
Allerdings: Auch Verbalverkehr ist zuweilen ganz schön strapaziös. Kim, die Prostituierte aus dem «Globe», sagt: «Wenn man zehn Männer hintereinander hat, die einige Stunden lang reden wollen, wird es schon anstrengend», meint Kim. «Es nimmt einem zuweilen ja auch psychisch mit.»
Ungetrübte Freude am neuen Konversationstrieb der Schweizer Männer haben zumindest die Call-Center. Statt gelangweilt immer dieselbe Sexualsymphonie ins Telefon zu stöhnen, können sich die Mitarbeiterinnen der Sexlinien immer öfter als Laien-Therapeutinnen betätigen und bei der Lösung allerlei seelischer Probleme helfen. Die Gespräche würden länger und damit rentabler, bestätigt eine Mitarbeiterin eines Basler Sextelefonbetriebs.
Die neue Softness im Horizontalgewerbe liess unlängst den «SonntagsBlick» titeln: «Schweizer Männer wollen nur das eine: Kuscheln». Die Zeitung fragte angesichts des sanften Treibens in den Bordellen sogar beunruhigt, ob denn die hiesigen Männer sexuell nur noch «Nieten» seien, «langweilig» und «verklemmt». Diese Sorge wirkt nicht nur gesucht, sie ist auch ungerechtfertigt – die Lage präsentiert sich differenzierter: «Die Männer wollen nach wie vor auch Sex. Es geht ihnen aber mehr um das ganze Drumherum, um Romantik, Zärtlichkeit, nicht mehr bloss um ein schnelles Rein und Raus», sagt Fachfrau Kim.
Experten können der Nachfrageveränderung auf dem Sexmarkt sogar etwas Gutes abgewinnen: Der Trend nach Nähe bedeute einen Entwicklungsfortschritt, behauptet Psychologe Wirz. Männer realisierten, dass sie zu ihren Wünschen nach Zärtlichkeit stehen können. Und: «Auch Prostituierte sind nicht mehr einfach zum Abspritzen da, sondern werden als Menschen wahrgenommen.» Was für ein Fortschritt.
So long
Kevin 2929
P.S.: Kevin-der-beim-Anblick-von-Kim-und-Sunny-2-MAl-ins-Tischblatt-beisst…