In letzter Zeit wurden einige Stimmen von Salon-Girls laut, die sich irgendwie in einer Opfer-Rolle sehen. Das ist, ohne bestehende Zuhälterei, selten und absurd. Hier ein aktueller Report aus der Weltwoche. Er ist auch auf der Seite www.weltwoche.ch frei zugänglich und so wird kein Copyright verletzt.
Topstorys
«Die Männer riechen das»
Michèle Roten
Sie kommen aus gutem Haus. Sie studieren an der Universität Zürich. Und in der Freizeit arbeiten sie als Huren. Warum machen sie das? Drei Begegnungen.
«Wenn du acht Stunden lang gefickt hast, dann merkt man dir das an.» (Bild: Isabel Truniger)
Marlène
Marlène ist klein und zierlich. Sie sieht zerbrechlich aus. Alles an ihr ist fein und klein, ausser die Augen. Ihr knapp kinnlanges, hellbraunes Haar sieht aus wie frisch vom Coiffeur, es fällt ihr immer wieder in die Augen, immer wieder streicht sie es mit der routinierten Handbewegung aus der Stirn. Unter ihrem schwarzen Rollkragenpulli zeichnen sich die Schulterknochen ab, und auf dem Rücken steht dort, wo das Haar aufhört: «Armani», schwarz gestickt. Ihre Stimme ist kindlich, und sie kichert oft. Marlène sieht aus wie 17, ist aber 25, arbeitet in einer Bank und studiert Wirtschaft im zweiten Semester. An den Wochenenden ist sie Prostituierte in einem Bordell in Zürich.
«Es ist nicht leicht, zu erklären, warum ich das mache», sagt sie. «Manchmal tue ich’s fürs Geld, das heisst für den Luxus, den ich mir damit gönnen kann, manchmal weil ich das Gefühl habe, etwas Gutes zu tun. Heute bin ich zum Beispiel ein bisschen erkältet, da hat man normalerweise keine Lust auf Sex. Aber trotzdem freue ich mich auf heute Nacht.»
Marlène hüstelt, räuspert sich und nimmt mit spitzen Lippen einen Schluck Pfefferminztee. Ob sie eine Zigarette von mir haben könne, es sei die erste heute, und es ist 16 Uhr. Beim ersten Zug verzieht sie das Gesicht, und nach dem vierten drückt sie die Zigarette aus.
«Worauf freust du dich denn?»
«Meine Identität abzulegen und eine andere zu sein. Ich kann abschalten, es macht mich glücklich. Diese Welt ist eine Droge.»
Marlène erzählt aus ihrer Jugend: «Meine Kindheit war völlig normal. Die Ehe meiner Eltern ist überaus glücklich, mein Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann. Es war immer alles in bester Ordnung. Ich habe bis 13 mit Lego gespielt, mit 16 hatte ich meinen ersten Freund. Männer interessierten mich erst sehr spät, aber ich spürte die ganze Zeit, dass das noch kommen würde, und dann mit ganzer Wucht. Die Welt von Prostitution und Sex hatte für mich schon in der Pubertät einen gewissen Reiz, obwohl ich keine Ahnung hatte, worum es genau ging. Eines Tages las ich im Magazin einen Artikel über eine Frau, die mit 14 im Fernsehen einen Bericht über eine Stricherin gesehen hatte und dann zu ihrer Mutter sagte: ‹Ich will nach Zürich, ich will auch diesen Beruf lernen.› Bei mir war das ähnlich. Die Affinität war schon immer da. Manchmal akut, manchmal latent.
Effektiv dazu gekommen bin ich durch ein Inserat im Tages-Anzeiger. Plötzlich flammte die alte Idee wieder auf. Jetzt könnt ich’s doch einfach tun, dachte ich. Ich war Single, alles passte, und da stand: ‹Der beste Verdienst in ganz Zürich.› Bis dahin stand ich immer unter Druck, einen Typen zu finden, jedes Wochenende, zwanghaft… Diesen Stress würde ich jetzt nicht mehr haben. Sex war einfach schon immer ein wichtiges Thema in meinem Leben. Zum Beispiel gestern: Ich verabredete mich mit einem ehemaligen Arbeitskollegen und wollte eigentlich mit ihm über Politik diskutieren. Aber er fing gleich an, über Sex zu reden, obwohl er nichts weiss über meinen Nebenjob. Ich ziehe dieses Thema an.»
Wenn Marlène während unseres Gesprächs aufs Klo geht, schauen ihr viele Männer nach.
«Warum?»
«Die riechen das. Manchmal gehe ich nach dem Arbeiten noch in den Ausgang, dann solltest du die Männer mal sehen: Wenn du acht Stunden lang gefickt hast, dann merkt man dir das an. Ich habe ziemlich schnell kapiert, dass jeder Mann mit Sex manipuliert werden kann. Und damit meine ich nicht unbedingt körperlichen Sex, sondern einfach das Wissen darum. Wenn du dieses Wissen hast, kannst du es mit jeder Bewegung ausdrücken, und die Männer spüren das – wie Tiere. Seit ich diesen Job mache, reagieren aber Männer und Frauen anders auf mich. Vielleicht weil es mir gut geht und der Job mich glücklich macht. Und er lenkt ab. Auch ich habe so meine psychischen Probleme. Doch seit ich im Studio arbeite, habe ich kein einziges Mal geweint. Es ist nicht dasselbe, wie wenn du jeden Donnerstagabend einen Bastelkurs besuchst. Es beeinflusst dein ganzes Leben. Du fühlst dich selbstbewusst, weil du weisst: Mir kann keine Frau etwas vormachen. Alle Mädchen in unserem Studio sind so.
Eines zeichnet sie alle aus: Selbstbewusstsein. Sie kriegen, was sie wollen, denn sie wissen, wie sie es kriegen. Es herrscht ein grosser Zusammenhalt zwischen uns. Zumindest wenn wir im Bordell sind. Wenn ich einige von ihnen allerdings in der Stadt treffen würde, würden wir uns wahrscheinlich kaum grüssen.
Hin und wieder kommt mir in den Sinn, wie anrüchig meine Arbeit ist und dass wir unseren Körper verkaufen. Das ist doch tragisch und irgendwie auch romantisch. Eine treffende Szene: Eine von den Jüngeren, eine 16-Jährige, wollte sich die Fingernägel rot lackieren. Sie fing damit an, und nach drei Fingern schüttelte sie den Kopf und sagte: ‹Nein, das sieht ja völlig nuttig aus.› Wir schauten sie an und sagten: ‹Du bist eine Nutte!› Erst lachten wir, aber dann herrschte betretenes Schweigen.
Letzthin fragte mich eine Kollegin, warum ich das mache. Ich wusste keine Antwort. Sie meinte dann: ‹Ich glaube, es geht uns darum, Liebe zu schenken. Diesen Männern in dieser gewissen Zeitspanne ein Maximum an Liebe zu geben.› Das trifft es ziemlich genau. Einmal war zum Beispiel ein recht hässlicher Kunde bei mir. Irgendwann fragte er mich: ‹Was hältst du eigentlich von mir?› Ich antwortete: ‹Du bist ein sehr schöner Mann. Du gefällst mir.› Das stimmte zwar nicht, aber gelogen war es auch nicht. Ich versuchte, ihn spüren zu lassen, dass ich das in diesem Moment wirklich so meine. Um ihm ein gutes Gefühl zu geben. Ich habe wohl eine Art Mutter-Teresa-Komplex: Ich weiss, dass so ein Typ im wirklichen Leben nie an eine Frau wie mich herankommen würde, und verkaufe ihm so zumindest die Illusion.»
Nach dem Gespräch begleite ich Marlène in einen Laden an der Langstrasse. Sie kauft sich ein Paar von diesen Nuttenschuhen: Plateau-High-Heels mit durchsichtiger Plastiksohle und glitzernden Bändchen. Ich finde sie schrecklich. «Ich auch», sagt Marlène. «Aber sobald ich das Studio betrete, finde ich sie schön.»
Seraina
Als Seraina das Lokal betritt, liegt mir nichts ferner, als sie anzusprechen: Diese unauffällige Erscheinung arbeitet gewiss nicht als Nebenbeinutte. Sie sieht aus wie meine Kommilitonin, deine Nachbarin, seine Tochter und unser aller Kreisbüro-Sachbearbeiterin. Einfach extrem normal. Sie ist 23, hat ein sympathisches Gesicht, eine durchschnittliche Figur, weibliche Rundungen, die dunklen, gewellten Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie trägt eine Brille und ein Strickjäckchen über einem T-Shirt, ist ungeschminkt. Einzig der grosse Ring an ihrer linken Hand ist einigermassen auffällig. Ihre Stimme ist tief, sie macht oft boing oder zack oder krrrrz, wenn sie etwas veranschaulichen will. Hauptberuflich ist sie Publizistikstudentin.
«Für mich als Studentin ist der Job ideal. Ich kann in ein, zwei Abenden pro Woche mehr verdienen als andere mit einer Hundertprozentstelle; das ändert sich aber leider langsam, durch die schlechtere Wirtschaftssituation und das Überangebot hat der Durchschnittsverdienst um gut einen Drittel abgenommen. Ausserdem bin ich frei: Ich kann Ferien machen, wann ich will – vor allem vor Prüfungen und fälligen Seminararbeiten ist dies optimal.
Angefangen habe ich wegen Geldproblemen. Ich wollte in Amerika eine Sprachschule besuchen. Meine Eltern überwiesen mir das ganze Geld für Unterkunft und Studiengebühren aufs Konto. Das Geld war schnell weg: Partys, Shopping… Ich kam in die Schweiz zurück, um für kurze Zeit zu jobben, fand aber nichts Geeignetes. Im Tages-Anzeiger sah ich ein Inserat: ‹Bei uns verdienst du Traumsummen.› Dann ging ich da halt mal hin. Im Nachhinein muss ich sagen: Ich hatte riesiges Glück, dass ich an einen seriösen Klub geriet. Da gibt es üble Sachen.
Ich fuhr nach Oerlikon, um mich vorzustellen. Damals war ich 22 und hatte noch nicht viel Erfahrung mit Sex. Ich war erst mit drei Männern im Bett gewesen. Ich wurde in ein Zimmer geführt, wartete und starrte die ganze Zeit auf den harten Porno, der im Fernseher lief. Ein paar Tage später fing ich an. Die ersten zwei, drei Mal geht man mit einem anderen Mädchen aufs Zimmer und schaut nur zu. Sie erklären einem alles. Mein erster Kunde war blond, etwa 35, Sternzeichen Stier. Er hatte einen Anhänger an einem Kettchen um den Hals, darum weiss ich das. Ich erinnere mich nur noch daran, dass er irgendwann sagte: ‹Du kannst aufhören, ich bin fertig.› Peinlich. Da dachte ich: Das kannst du besser. Ich bin eine Kämpfernatur, will immer die Beste sein.
Als ich aus dem Zimmer ging, hatte ich dieses starke Gefühl: Jetzt kannst du nicht mehr zurück. Und es war ja auch nicht schlimm. Ich verdiente an diesem ersten Abend 700 Franken, und mit dem vielen Geld in der Tasche fuhr ich nach Hause und dachte: Cool!
Erst wollte ich nur in den Ferien arbeiten, das Geld fürs Austauschjahr hatte ich schnell verdient. Im Sommer arbeitete ich ein paar Monate Vollzeit. Mein damaliger Freund wusste davon und fand es ganz okay; immerhin konnten wir spontan mal ein Wochenende wegfahren oder uns sonst schöne Sachen leisten. Er überredete mich, ihm ein Auto zu kaufen. Vielleicht tat ich es, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Meinem aktuellen Freund sage ich nichts von meiner Beschäftigung, das erspare ich uns. Er glaubt, ich arbeite als Nachtwache, das kann er auch nicht kontrollieren.»
Ich frage Seraina, ob sich der Sex mit ihrem Freund verändert hat.
«Verändert nicht, ich habe ja schon im Bordell gearbeitet, als ich ihn kennen gelernt habe. Aber ich achte darauf, dass ich nicht routiniert wirke im Bett, wenn er mal eine etwas ausgefallene Stellung vorschlägt, tue ich so, als wäre das für mich was ganz Neues und speziell. Sex mit ihm ist aber schon etwas anderes. Schöner, weil Gefühle dabei sind.» Was sagen Serainas Freunde zu ihrer Arbeit? «Keiner meiner Bekannten weiss von meinem Job. Ich war mal mit einem Freund im Ausgang, da sagte ein Kerl zu ihm: ‹Deine Frau ist eine Nutte.› Ich stritt zuerst alles ab, gab es aber zu, als er nicht lockerliess. Daraufhin brach der Freund den Kontakt zu mir ab, denn es ‹gruuse› ihn jetzt vor mir. Ich verstehe das, die Leute haben ein Bild von der drogenabhängigen, verseuchten, kranken, vom Zuhälter verprügelten Nutte im Kopf. Ein andermal sprach mich ein Kunde auf der Strasse in Gegenwart meiner Mutter an: ‹Schlampe, können wir einen Termin vereinbaren?› Ich hätte ihn am liebsten getreten, aber ich schaute ihn nur schockiert an und wandte mich ab, damit es nicht auffiel.
Eines muss allen Männern klar sein: Wenn du ins Studio kommst, kannst du mit mir gegen Geld fast alles machen, was du willst. Ausserhalb aber hast du mich nicht zu kennen. Grüss mich nicht, sprich mich nicht an. Erst recht nicht, wenn ich in Begleitung bin. Das sind zwei Welten, strikte getrennt. Ich bin kein Freiwild, nur weil ich diesen Job mache. Wir werden oft abschätzig behandelt, aber ich bin überzeugt: Diesen Beruf braucht es. Man beachte zum Beispiel, wie viele Männer das Gefühl haben, ein perverses Schwein zu sein, nur weil ihre Frau sich weigert, sie oral zu befriedigen oder mehr als einmal im Jahr Sex zu haben. Meistens sind es genau diese Frauen, die gegen uns wettern. Die sollten froh sein. Sonst würde ihr Mann viel- leicht der Sekretärin nachstellen oder sich am Töchterchen vergreifen, was weiss ich. Ich habe kein Interesse daran, den Mann für mich zu gewinnen, wie eine Geliebte.
Der Job hat mir viel Selbstbewusstsein gegeben. Ich fand mich immer hässlich, getraute mich kaum in die Badi. Wenn du ein Jahr lang nackt vor Menschen gestanden bist, verändert das deine Selbstwahrnehmung. Mein Verhältnis zu meinem Körper ist viel ungezwungener jetzt. Es ist ein Supergefühl, dass es Männer gibt, die 500 Franken auf den Tisch legen, um eine Stunde mit dir zusammen zu sein. Vor allem Ältere sind süss, die kuscheln sich an meinen üppigen Busen und lästern über all die mageren Frauen in den Medien. Ältere Männer habe ich ohnehin lieber. Sie wissen genau, was sie wollen, sind anständig, meistens sehr gepflegt und legen auch Wert darauf, dass du etwas davon hast. Ihre eigenen Bedürfnisse sind oft zweitrangig. Es gibt übrigens viele Mädchen bei uns, die es bei sich nicht zu einem Orgasmus kommen lassen, weil sie finden, dann würden sie ihren Freund betrügen. Das ist doch lächerlich. Wenn man das schon macht, kann man es sich doch auch gut gehen lassen. Von jüngeren Kunden muss ich mir oft Diät- und Fitness-tipps anhören, da frage ich mich manchmal, warum sie mich aussuchen. Ich habe schliesslich auch Gefühle und bin verletzlich wie jeder andere Mensch.»
«Du erzählst, als sei das ein Beruf wie jeder andere», sage ich zu Seraina. «Siehst du das etwa so?» – «Nein», meint sie, «normal ist das natürlich nicht. Irgendwo muss ein Bruch sein. Irgendwann muss etwas passiert sein, dass man so weit geht. Bei mir waren das wahrscheinlich zwei Faktoren: Als Kind wurde ich missbraucht und entwickelte auch Essstörungen. Obwohl diese Dinge für mich seit Jahren kein Thema mehr sind, zumindest nicht bewusst, haben sie wohl dazu geführt, dass ich Kopf und Körper fast getrennt wahrnehme.»
Serainas Alltag ist strukturiert wie jeder andere. «Gegen 17 Uhr fahre ich mit dem Zug zum Studio. Ich stelle das Essen, das ich mitgebracht habe, in den Kühlschrank, packe meine Sachen in mein Kästchen. Dann sehe ich in den Büchern nach, wie es den Tag über so gelaufen ist, schaue nach, mit wem ich arbeite, ob ich Reservationen habe. Dann gehe ich duschen, rasiere mich bis auf ein kleines Dreieck ganz. Dann schminke ich mich, immer sehr dunkel um die Augen, vielleicht auch, damit man nicht sieht, wie ich wirklich aussehe. Ich bürste meine Haare, ziehe mich an, irgendetwas Durchsichtiges, Strapse, und gehe ins Mädchenzimmer, lese ein Heftli, unterhalte mich mit den anderen. Meistens ist es lustig, man fühlt sich fast wie daheim. Im Aufenthaltsraum steht ein grosser Tisch in der Mitte, darauf sind Guetsli, Magazine, Aschenbecher, Teetassen, fast wie in einem Wohnzimmer. Der einzige Unterschied ist, dass vielleicht noch ein Vibrator draufliegt.
Mir fällt auf, dass im Moment vor allem ein Thema unsere Gespräche beherrscht: die Tatsache, dass unser Gewerbe zunehmend kaputtgeht, weil man versucht, die schlecht laufenden Geschäfte durch Dumpingpreise und das Anbieten fraglicher Praktiken anzukurbeln. Zum Beispiel sind die Mädchen vielerorts verpflichtet, die Kunden zu küssen und Französisch ohne Kondom zu machen. Bei uns im Bordell sind wir uns alle einig, dass Küssen schlichtweg nicht ins Puff gehört, da dies ja eine sehr intime, persönliche Geste ist. Es klingt vielleicht seltsam, aber ich kann keine fremden Männer küssen, schon rein meines Freundes wegen. Noch weniger würde ich ohne Gummi blasen, das ist doch Suizid auf Raten. Ich kann einfach nicht verstehen, dass Männer so dumm sein können, dies zu machen, auch für sie ist das Risiko hoch, Herpes oder noch Schlimmeres zu erwischen. Mir scheint, dass sich viele nicht wirklich bewusst sind: Aids ist für immer! Ich arbeite hart an einer Zukunft, die ich auch gerne erleben würde.
Von den Kunden, die mich ein bisschen kennen, mit denen ich mich schon unterhalten habe, werde ich manchmal gefragt, warum ich das mache, ich sei doch ein schlaues Mädchen. Dann sage ich: ‹Genau deswegen.›»
Kitty
Kitty ist 28, schlank, relativ gross, sie hat lange dunkelbraune Haare und einen kurzen, schrägen, verstrubbelten Pony. Ihr Gesicht ist fein geschnitten und sehr hübsch, sie trägt schwere schwarze Schuhe. Neben ihr liegt ein Computerausdruck mit Notizen, die sie sich für das Gespräch gemacht hat. Sie strahlt die ganze Zeit. Sie lächelt und strahlt und lächelt.
«Ich studiere seit drei Jahren Biologie und mache den Job seit fast zwei Jahren. Meine Hauptmotivation ist nicht das Geld, sondern meine eigene Sexualität und mein Interesse an der Sexualität anderer Menschen. Früher war ich Krankenschwester, darum habe ich auch keine Berührungsängste, es gibt wenig Dinge, vor denen ich mich ekle. Prostitution hat mich schon immer fasziniert. Wenn ich mich und andere Frauen beobachte, fällt mir auf, dass man bis ungefähr 25 noch eine relativ undefinierte Sexualität hat. Man ist auf der Suche. Man weiss noch nicht so genau, was einem gefällt, worauf man Lust hat. Mit 24 hatte ich mit einem Mann sexuelle Erlebnisse, die mir eine ganz neue Welt eröffneten, meine Neugier auf diesen Job wurde dadurch noch viel stärker. Dann bekam ich keine Stipendien für mein Studium, ich brauchte Geld, und so kam das.
Das ist der beste Job, den ich je gemacht habe. Ich habe noch nie so viel Aufmerksamkeit und Komplimente gekriegt. Egal, ob sie ehrlich gemeint sind oder nicht. Ich freue mich, wenn ich anderen Menschen ein gutes Gefühl geben kann, ich spüre die Dankbarkeit. In den früheren Berufen kam ich mir ausgenützt vor – zum Beispiel in einer Bar, wo man wenig verdient und sehr hart arbeitet. Ausserdem muss man sich von Gästen an den Hintern fassen lassen, ohne Geld dafür zu kriegen.
Interessant ist, dass ich so an Fantasien herankomme, die mir selber nie in den Sinn kämen. Das kann sehr inspirierend sein. Bei jungen Girls sieht man das sehr oft: Wenn ein Mann einen speziellen Wunsch hat, wie zum Beispiel ‹Natursekt›, das heisst, man pinkelt sich gegenseitig an, dann sind sie erst ganz entsetzt und sagen: ‹Das kann ich nicht, igitt.› Dann erklärt man ihnen alles, gibt Tipps. Meistens kommen die dann strahlend aus dem Zimmer. Auch wenn man es jetzt nicht unbedingt erotisch oder befriedigend findet – es bringt einen persönlich weiter. Das finde ich so schön: Es gibt wirklich viele Mädels, die daran wachsen und aufblühen – einfach, weil sie hier ‹gezwungen› werden, Sachen auszuprobieren, und so einiges über ihre Lust herausfinden. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass einige in diesem Job ihren ersten Orgasmus haben, auch wenn sie vorher schon sexuell aktiv waren. Dann waren sie nämlich wahrscheinlich nur mit jungen Männern zusammen, und die haben oft keine Ahnung. Sie haben sich nicht unter Kontrolle und schauen meistens nur für sich.
Mich stört vor allem das Klischee, dass eine Frau diesen Beruf nur wegen des Geldes macht und sie auf jeden Fall ein Riesenproblem damit hat und sich ausnützen lässt. Niemand kommt auf die Idee, dass es auch Frauen gibt, die das für ihre eigene Lust machen. Ich finde das Bild vom unterdrückten Sexobjekt völlig falsch. Wenn man sich einigermassen geschickt anstellt und nicht blöd ist, hat man nämlich als Frau sehr viel Macht. Der Mann ist uns ausgeliefert. Das ist mein Spiel, ich bestimme die Regeln. Für mich ist der Mann ein Sex-objekt, und Männer lassen sich gerne und leicht manipulieren, wenn es um Sex geht.
Ich muss jeden Mann nehmen. Das ist es auch, was viele Frauen abschreckt. Meine Professionalität verlangt es, dass ich keinen Unterschied mache zwischen Dick und Dünn, Gross und Klein, Gepflegt und Ungepflegt. Ich kann auch mit einem Mann guten Sex haben, der mir unsympathisch ist. Ausserdem geht jeder erst mal unter die Dusche, wenn er dann immer noch stinkt, geh ich mit, dann weiss ich, dass er jetzt wirklich sauber ist. Schlimmer als ein stinkender Kerl, ist einer, der steif wie ein Brett auf der Matratze liegt, und ich habe keine Ahnung, ob ihm gefällt, was ich mache, oder ob er im Kopf die Einkaufsliste durchgeht.»
«Nie ist dir einer zuwider?» Kitty lächelt und zögert. «Es ist aber wirklich so. Ich habe viel zu grossen Spass an Sex, als dass ich mich durch solche Sachen ablenken lasse.
Meine Eltern wissen nichts von meinem Job, ich hab es ihnen nie gesagt. Aber ich glaube fast, sie ahnen etwas. Ich bin in einem sehr unverkrampften Umfeld aufgewachsen, wir reden über alles, auch über Sex. Schon als Teenager war mir klar, dass ich mich nie auf nur einen Mann fixieren wollte. Ich hatte damals Diskussionen mit meiner Mutter, warum sie immer nur mit meinem Vater zusammen sein wollte, keine Lust auf andere Erfahrungen hatte, ich habe das nie verstanden.
Ich habe alles unter Kontrolle, mein Leben funktioniert bestens. Für mich wird es echt hart, wenn ich einmal aufhören muss. Es ist ganz klar, dass die Männer junges, knackiges Gemüse wollen, das andere haben sie schon zu Hause. Für mich ist dieser Job perfekt. Das hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass ich mit 28 Jahren schon relativ alt bin in dieser Branche. Ich weiss, was ich machen kann und was nicht. So habe ich einen Stammkunden, der sich immer von mir ‹fisten› lässt, das heisst, ich stecke ihm beide Arme bis zum Ellenbogen hinten rein. Da kommt natürlich ab und zu mal Blut oder Scheisse raus. Mir macht das überhaupt nichts, aber als ich mal in den Ferien war, hat eine jüngere Kollegin von mir das übernommen, und die hatte nachher Probleme.»
Die Namen der Frauen wurden geändert.