quote:Geschlechtsverkehr für Behinderte
Gegen Bezahlung sollen Sexualassistentinnen für Behinderte ab dem nächsten Jahr auch Geschlechtsverkehr anbieten. Dies entspreche einem Bedürfnis der Behinderten selbst, heisst es bei der neuen Fachstelle Behinderung und Sexualität.
Die Schlagzeilen jagten sich, als Pro Infirmis vor gut drei Jahren ihr so genanntes Berührerinnen-Projekt ankündigte. Mit Spendengeldern, empörte man sich landauf, landab, solle Behinderten Sex angedient werden. Pro Infirmis beteuerte, die Berührerinnen würden keinen Geschlechtsverkehr anbieten. Doch die Spenden sackten dramatisch ab, und Pro Infirmis zog sich zurück. Ein Förderverein unter Federführung der selber körperbehinderten Psychotherapeutin Aiha Zemp übernahm das Projekt.
Heute sind von den damals ausgebildeten zehn Sexualassistentinnen und -assistenten noch fünf aktiv: Drei Männer und zwei Frauen zwischen 34 und 61. Sie werden von der Mitte Mai eröffneten Fachstelle Behinderung und Sexualität (Fabs) vermittelt und müssen dort regelmässig in die Supervision. Für 150 Franken die Stunde bieten sie ihren Klienten Zärtlichkeit und Anleitung zur Selbstbefriedigung an. Aber keinen Geschlechtsverkehr.
Gefragt sind vor allem die beiden Frauen: Drei von vier Klienten sind männlich, meistens körper-, seltener geistig behindert, psychisch leidend oder alt. Beschwerden über Übergriffe, sagt Fabs-Leiterin Aiha Zemp, habe es nicht gegeben. Eher das Gegenteil: Fast alle Klienten, egal ob Männer oder Frauen, wünschten mehr als nur Zärtlichkeiten. Viele möchten auch wissen, ob Geschlechtsverkehr für sie überhaupt möglich ist.
Bordell ist keine Alternative
Doch warum können Behinderte nicht einfach ins Puff gehen? Ein Problem, sagt Zemp, sei für viele der Zeitstress: Bis jemand nur schon ausgezogen sei, dauere es manchmal zehn Minuten. Das kostet. Zemp erzählt auch von zwei jungen Männern im Rollstuhl, der eine mit fortschreitender Muskelkrankheit. «Er sagte: Ich bin schon zu stark vom Tod gezeichnet, das Puff ist nichts mehr für mich.» Und der andere habe gefragt: «Was will ich im Puff mit einem Katheter am Schwanz?»
Nun will die Fachstelle im März 2007 einen zweiten Ausbildungsgang durchführen. Dafür sucht sie Prostituierte, aber auch Homosexuelle, die bereit sind, zu fairen Preisen Geschlechtsverkehr anzubieten. Fördert sie da nicht die Prostitution? Da ist Aiha Zemp kompromisslos: Prostitution, kontert sie, sei in der Schweiz nichts Verbotenes. Und: «Gleichstellung darf nicht Halt machen vor der Sexualität.» Sexuelle Entfaltung sei ein Menschenrecht, dürfe weder verhindert noch umschlichen werden. Auch nicht bei Menschen mit geistiger Behinderung. «Da», sagt Zemp, «muss man sorgfältig abklären, was für eine Begleitung dieser Mensch benötigt und ob er sie wirklich will.»
Gut zwei Monate gibt es die Fachstelle jetzt. Sie hat einen potenten Fachbeirat, darunter den Zürcher Psychiater Frank Urbaniok. Das Angebot umfasst Weiterbildungen, Supervisionen, die Erarbeitung von Sexualkonzepten, Beratungen zum Thema Sexualität und Behinderung sowie Abklärungen bei erlittener sexueller Gewalt. Pro Tag kommen fünf bis acht telefonische Anfragen: Da ist der 40-jährige, beruflich gut integrierte Spastiker, der bei einer Sexualassistentin herausfinden möchte, ob er überhaupt zärtlich sein könne mit einer Frau. Oder eine junge muskelkranke Frau, die sich die Kinderfrage stellt.
Am meisten erschütterte Aiha Zemp die Anfrage einer Mutter. Sie wünschte, dass die Fachstelle die sexuellen Wünsche ihres 30-jährigen Sohnes wegtherapiere. Zemp schickte ihr Unterlagen über Sexualassistenz. Da rief die Frau an und teilte mit, ihr Sohn habe jetzt jemanden ausgewählt. Aber sie, die Mutter, wolle unbedingt mitgehen. «Das», sagt Zemp, «zeigt mir, wie wichtig es ist, dass wir uns à fond für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung einsetzen müssen.»
Spender und Spenderinnen gesucht
Dass es in der Schweiz eine Fachstelle für Behinderung und Sexualität brauche, war der Psychotherapeutin lange vor dem Berührerinnen-Projekt klar. Sie hatte in einer international beachteten Studie herausgefunden, dass zwei von drei geistig behinderten Frauen und jeder zweite Mann in Heimen sexuelle Gewalt erleiden. Hauptursache: fehlende Aufklärung.
Aiha Zemps liebste Arbeit ist es denn auch, geistig behinderten Erwachsenen Worte zu geben für ihre Sexualität. Ihnen zeigen, dass Geschlechtsverkehr nicht gleich bedeutend ist mit Gewalt. Es ist schön, zu sehen, wie aktiv und fasziniert ihr die Teilnehmer zuhören. Wie ihre Augen leuchten, wenn ihnen Mitbewohner mit einem Federchen übers Gesicht streichen. Was es jetzt noch braucht, sind verlässliche Geldquellen, denn die Existenz der Fachstelle ist erst fürs laufende Jahr gesichert.<!-/quote-!>