Sexindustrie in Grossbritannien

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  1. Oktober 2004, 02:24, Neue Zürcher Zeitung

Sexindustrie in Grossbritannien
Diskussion um Legalisierung von Bordellen

R. B. London, im Oktober

Die Sexindustrie - ein schreckliches Wort, wenn man’s bedenkt -, die Sexindustrie ist ein Milliardengeschäft. Allein der Frauenhandel in die Prostitution soll weltweit über zehn Milliarden Franken einbringen. Hinzu kommen die noch grösseren Erträge aus Prostitution, Striptease, Pornografie, Telefonsex, Chatroom-Sex, Sex- Spielzeugen und anderes mehr. Direkt damit verknüpft sind vielfach der Drogenhandel, die Geldwäscherei und sehr viel Elend. Es gibt Männer, die glauben, Prostituierte fänden Vergnügen an ihrer Tätigkeit. An einem Seminar der London School of Economics über die Prostitution erklärte neulich eine teilnehmende Prostituierte: «Es gibt nur zwei Gründe, weshalb wir alle in diesem Gewerbe sind: entweder, weil wir das Geld benötigen oder weil wir von andern dazu gezwungen werden.»

Vorschläge zu Gesetzesänderungen

In Grossbritannien ist wieder einmal die Frage, ob man Bordelle legalisieren soll, ein Thema der öffentlichen Debatte. Eine Unterhausabgeordnete setzte sich unlängst im Parlament dafür ein. Das Innenministerium seinerseits veröffentlichte im Juli unter dem Titel «Pay the Price» ein Konsultationspapier über die mannigfaltigen Aspekte der Prostitution, über die gegenwärtige Rechtslage in England und Wales und über Möglichkeiten zur Änderung der bestehenden, vielfach nicht mehr durchsetzbaren Gesetze. Anhand der eingehenden Stellungnahmen zu dieser Publikation will Innenminister Blunkett dem Parlament Vorschläge zu Gesetzesänderungen unterbreiten. Zudem hat die Frauenorganisation «Eaves», die Prostituierten hilft, sich aus den Fängen von Zuhältern und Frauenhändlern zu befreien, im August unter dem Titel «Sex in the City» eine Studie über die «Off street»-Prostitution in London, also über das in Häusern und Wohnungen der Stadt stattfindende Sexgewerbe, veröffentlicht.

Die Publikation des Innenministeriums hält sich an den Bereich des Rechts. Die bestehende Rechtslage ist einfach: Die Prostitution ist erlaubt; verboten sind die Strassenprostitution, das Anwerben von potenziellen Freiern auf der Strasse und das Führen von Bordellen. Als Bordell gilt eine Wohnung, wo gleichzeitig zwei oder mehr Prostituierte arbeiten. Nicht als Bordell eingestuft wird eine Wohnung, deren sich zwar mehrere Dirnen bedienen, die aber einzeln und an verschiedenen Tagen gebraucht wird. Weiter verboten sind das Werben mit Klebekarten in Telefonkabinen sowie die Teilhabe Dritter am Verdienst einer Prostituierten, was insbesondere Zuhälter und Wohnungsvermieter betrifft. Strafbar ist schliesslich auch das sogenannte «kerb crawling»: Freier, die im Auto langsam einem Strassenstrich entlangfahren.

Die gesetzlichen Verbote sind wirkungslos. Die Stadt ist voll von Massage- oder Saunasalons, die in Wahrheit (aber schwer nachweisbar) Bordelle sind. Wer spätabends etwa durch die Quartiere Soho oder Kings Cross spaziert, sieht, dass die Strassenprostitution floriert. Und in mancher öffentlichen Telefonkabine findet er die Wände voll von Werbekarten mit Telefonnummern und aufreizenden Frauenbildern. Paradoxerweise werden vielfach die gleichen Jugendlichen von privaten Sittenrichtern dafür bezahlt, dass sie die Werbekarten entfernen, und von Prostituierten dafür, dass sie diese wieder anbringen. Die Polizei ihrerseits ist unterfinanziert und hat weder das Personal noch die Zeit, um sich mit dem Sexgewerbe herumzuschlagen, zumal sich vor Gericht die Gesetze kaum durchsetzen lassen.

Hohe Dunkelziffern

Die Studie von «Eaves» basiert auf Nachforschungen in der Szene, namentlich auf Ermittlungen unter den Sexarbeiterinnen und ihren Kunden. Eher bedeutungslos sind die darin angeführten Angaben über die Zahl der in London arbeitenden Prostituierten sowie der Massage- und Saunasalons. Die Dunkelziffern sind da so gross, dass es - wie die Verfasser der Studie selber darlegen - unmöglich ist, auch nur annähernd gültige Angaben darüber zu machen. Interessant und zuverlässig sind jedoch die Angaben betreffend die mehreren tausend Prostituierten, die von der Studie tatsächlich erfasst worden sind. Ganze 81 Prozent davon sind Ausländerinnen. Anfang der neunziger Jahre hatte die Polizei deren Anteil noch auf bloss 0,6 Prozent geschätzt, allerdings in Bezug auf das gesamte Vereinigte Königreich. Heute bilden die Osteuropäerinnen mit 31 Prozent die grösste Gruppe unter den Ausländerinnen; die zweitgrösste Gruppe, rund 16 Prozent, stammt aus Südostasien, hauptsächlich aus Thailand.

Ständiger Ortswechsel

Wie viele von den im Londoner Sexgewerbe tätigen Frauen Opfer des internationalen Frauenhandels sind, lässt sich schlecht abschätzen, zumal sich die meisten illegal in Grossbritannien aufhalten. «Eaves» vermutet, dass es eine beachtliche Anzahl ist. Jedenfalls werden viele der Frauen von Zuhältern und Frauenhändlern mittels Gewalt oder schuldknechtschaftlicher Abhängigkeit zu dieser Arbeit gezwungen. Um zu verhindern, dass sie Beziehungen knüpfen oder gar Verbindungen zu Hilfsorganisationen finden, werden sie auch alle paar Tage oder Wochen an einen andern Arbeitsplatz gebracht, und zwar nicht nur innerhalb der Stadt, sondern im ganzen Land. Die Verbindung des Londoner Sexgewerbes mit internationalen Verbrecherorganisationen, namentlich mit dem Drogenhandel, schätzt «Eaves» ebenfalls als substanziell ein.

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