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Über ein halbes Jahr war Sexarbeit aufgrund der Pandemie verboten. Als einer der letzten Kantone hat Zürich auf Anfang Juni das Prostitutionsverbot aufgehoben. «Endlich», sagt Beatrice Bänninger, die unweit der Langstrasse die Anlaufstelle Isla Victoria leitet. Das Verbot habe ein grosses Elend geschaffen. Viele Sexarbeiterinnen hätten ihre letzte Goldkette verkauft, um durchzukommen. «Nun beginnt der Wiederaufbau.» Es gebe viel aufzuräumen: nicht nur wirtschaftlich, sondern auch psychisch.
Beatrice Bänninger sagt, sie kenne kaum Prostituierte, die Kurzarbeitsentschädigungen erhalten hätten. Viele wohnen nur für eine gewisse Zeit in der Schweiz und arbeiten in einem sogenannten 90-Tage-Meldeverfahren. Das Sozialamt wird gemieden, aus Angst, dass die Aufenthaltsbewilligung nicht verlängert wird. So hätten viele Frauen illegal weitergearbeitet, sagt die Beraterin. Die Stadtpolizei Zürich hat seit Dezember rund 490 Sexarbeiterinnen verzeigt, die trotz des Verbots arbeiteten. Die Bussen beginnen bei 450 Franken. Ausserdem bekamen um die 70 Freier eine Anzeige
Momentan seien weniger Sexarbeiterinnen als vor der Pandemie in Zürich, sagt Bänninger. Und doch sei das Angebot bereits grösser als die Nachfrage, besonders im Langstrassenquartier. Bänninger geht davon aus, dass bald wieder mehr Frauen kommen werden, sehr junge aus osteuropäischen Ländern, in denen die wirtschaftliche Lage noch schlechter ist als vor Corona. Viele liessen sich zum ersten Mal prostituieren und seien besonders vulnerabel. «Das macht mir grosse Sorgen.»
Eine 53-jährige Prostituierte aus Estland ist schon länger in Zürich. Die Frau finanzierte ihren Lebensunterhalt in der Zeit des Verbots von ihrem Ersparten und mithilfe von Organisationen und Stammkunden. «Ich habe jetzt wieder ein freieres Gefühl», sagt sie. 80 Prozent ihrer Kolleginnen hätten jedoch finanzielle Probleme und müssten von Kredit zu Kredit.
Viele ihrer älteren Kunden seien bereits zum zweiten Mal geimpft, sagt die Estin. Sie selbst wolle sich aus persönlichen Gründen nicht impfen lassen. Die Anlaufstelle Isla Victoria berichtet jedoch von vielen Anfragen von Prostituierten. «Ohne Krankenkasse ist es in Zürich nach wie vor schwierig, eine Impfung zu bekommen», sagt Beraterin Bänninger. Bald scheint sich das zu ändern. Das Gesundheits- und Umweltdepartement der Stadt Zürich bestätigt, dass es an einem Angebot für Personen arbeitet, die Mühe hätten, eine Impfung zu bekommen.
Auch auf dem Strichplatz in Altstetten arbeiten wieder Prostituierte. Ursula Kocher leitet die Beratungsstelle Flora Dora, die dort vor Ort ist. «Sechs Frauen haben am ersten Abend in den Boxen gearbeitet, und auch viele Autos waren da», sagt Kocher. Auch hier sei die Impfung ein grosses Thema. Viele würden sich gerne impfen lassen. Ansonsten gehe es in den Beratungen gerade oft um Arbeitsbewilligungen, da viele Sexarbeiterinnen während der Pandemie in ihre Heimatländer gereist seien und nun wieder in die Schweiz zurückkehren würden.
In Dietikon sucht Gräfin Viola derweil neue Mitarbeitende für ihr Sadomasostudio. Viele hätten sich während der Pandemie einen anderen Job gesucht. «Die Mietzinse haben uns fast umgebracht», sagt die Domina. Ihr Studio habe einen Antrag auf Covid-Hilfe gestellt, jedoch nur einen Bruchteil erhalten. Sie selbst habe während des Prostitutionsverbots nicht gearbeitet, obwohl es stets Anfragen gab. Gerade hatte Gräfin Viola ihre zweite Impfung. «Die Hälfte der Kunden fragt mich jeweils, ob unsere Frauen geimpft seien», sagt sie.
Wenn jemand ihr Studio Hades betritt, muss er eine Maske tragen und sich dann zuerst duschen und desinfizieren. Noch immer gelten für das Erotikgewerbe die Schutzkonzepte «für personenbezogene Dienstleistungen mit Körperkontakt». Beim Geschlechtsverkehr sollen Stellungen praktiziert werden, bei denen die Tröpfchenübertragung gering ist. Zusätzlich muss Gräfin Viola die Kontaktdaten der Kunden fürs Contact–Tracing notieren und den Ausweis kontrollieren. Sie und ihre Mitarbeiterinnen müssen sogar anrufen, um zu verifizieren, dass die Telefonnummer korrekt ist.
«Einige Gäste sind gleich wieder gegangen, da sie anonym bleiben wollen», sagt Gräfin Viola. So steht bei ihrem Onlineprofil seit dem 1. Juni zwar: «Heute anwesend». Wirklich bei ihr waren bis jetzt aber lediglich eine Handvoll Stammkunden, die ihr vertrauen. Ansonsten macht die Gräfin das, was auch die Prostituierten auf der Langstrasse machen: warten.
Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/das-rotlichtmilieu-erwacht-442464669229