quote:Sex auf Leben und Tod
Bareback-Partys sind der letzte Kick unter Schwulen – ein Zeichen von Hoffnungslosigkeit und Dekadenz
Von Wolfgang Joop
Wundert sich noch jemand, warum sich das HI-Virus wieder ausbreitet? Reibt sich jemand ernsthaft die Augen, weil die jungen Leute Kondome uncool finden? Und dass die Jugend von Aids nichts mehr hören will?
Nach einer Aids-Gala vor einem Jahr kam ein 25-Jähriger zu mir und erzählte, dass man angeschaut wird wie ein Spielverderber, wenn man auf einer wilden Party nach einem Kondom fragt.
Aids ist unmodern, war es von Anfang an. Schon als der Spiegel das Thema vor 20 Jahren zum ersten Mal auf den Titel setzte, zeigte er einen Sensemann im Holzschnitt – pures Mittelalter. Und so wirkt die Seuche bis heute. Sie passt unserer Lifestyle-Gesellschaft nicht in den Kram. Also denken die jungen Leute: Lasst uns in Ruhe mit eurer blöden Krankheit aus den Achtzigern!
Eine Gesellschaft, die immer noch fixiert ist auf die Schönheit der Jugend, darf sich nicht wundern, wenn die Jugend selbst daraus eigene Konsequenzen zieht: Was interessiert uns, ob wir in 30 Jahren noch leben? Wenn ich alt bin, muss ich meine Hosen hochziehen; wenn ich alt bin, wirft mein Tattoo Falten. Älterwerden ist so uncool. Und wenn die Zukunft keine Jobs und keine Hoffnung bietet, wollen wir wenigstens jetzt unseren Spaß!
Ich war vor einigen Monaten in St. Petersburg, einer Stadt mit zirka 60.000 HIV-Infizierten. Ich fragte, warum sich die Seuche so rasch ausbreiten könne, und bekam eine Gegenfrage gestellt: »Wo ist denn die Zukunft, für die wir uns schützen sollen?« Das ist Osteuropa, aber in Berlin ist auch einiges los. Der letzte Kick unter Schwulen sind Bareback-Partys. Bareback bedeutet »ohne Sattel reiten«. Beim Barebacking geht es zur Sache: Volles Risiko, russisches Roulette ohne Pistole, Sex auf Leben und Tod. Dies ist ein Zeichen von Hoffnungslosigkeit und Dekadenz: Die Zukunft verspricht nichts Gutes, und gleichzeitig fallen die letzten Tabus. Verantwortung will niemand mehr übernehmen. Ich war nie auf einer solchen Party, aber mir wurde erzählt, dass sie in Berlin-Mitte oder Schöneberg Wochenende für Wochenende stattfinden. Berlin gilt mittlerweile europaweit als »Capital of Barebacking«.
Die Befreiungsbewegung der Schwulen hat noch keine lange Tradition – was sind schon 30Jahre, wenn es um die Veränderung des eigenen Sexualverhaltens geht? Die Schwulen haben das Muster der Unterdrückung, das sie so lange erlebt haben, in ihren Sex übertragen. Es geht immer noch um Unterdrücker und Unterdrückte, darum, dass man sich vom »Macho Man« Zärtlichkeiten wünscht. Der Sex der Schwulen hat sich noch nicht emanzipiert, sie haben sich nicht ausreichend mit den dunklen Seiten der sexuellen Befreiung beschäftigt. Aids passt vielen, besonders den jungen Schwulen nicht in den Kram. Man will es nicht und belügt sich selbst, beispielsweise damit, dass sich doch angeblich immer weniger anstecken. Und dass man mit Pillen selbst Aids überleben kann.
Ich glaube nicht, dass wir die Jugend mit dem Thema Aids noch erreichen können. Die Politiker sind die Letzten, denen es gelingen kann: Nichts wäre in den Augen der Teenager uncooler, als wenn Angela Merkel und Edmund Stoiber im Fernsehen gemeinsam Kondome auf- und abrollten. Aber selbst der Jugendmusiksender hat keine Chance: Läuft dort ein Aids-Aufklärungsspot, zappt man zum Konkurrenzsender.
Umso erschütternder ist, wie lächerlich die Anti-Aids-Kampagnen daherkommen: Kondome werden wie Gummibärchen vermarktet. Aber Kondome sind nicht süß! Die Botschaft dieser Kampagnen ist katastrophal: Wer glaubt, dass Kondome wie Süßigkeiten sind, kann ohne schlechtes Gewissen auf sie verzichten.
Wir verdrängen alles, was nicht in unsere Lifestyle-Gesellschaft passt; Aids, Angst, Terror. Wir machen wieder Urlaub auf Bali, weil es da so schön billig ist seit den Terroranschlägen. In Amerika ist die beliebteste Partydroge derzeit »Xanax«, eine Anti-Panik-Tablette. Wir schieben diese unangenehmen Themen beiseite, das gilt für Aids wie für Osama bin Laden. Ab und zu geben wir uns schockiert: Wie? Bin Laden, gibt’s den denn noch?<!-/quote-!>