Hallo,
ein stiller Mitleser hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass in diesem Forum eine Diskussion läuft, die mich interessieren könnte. Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Ich bin Theologe und Pfarrer, daher mein Pseudonym „Amadeus“, ich interessiere mich sehr für sexualethische Fragen. Ich arbeite auch bei einem Projekt mit, wo es um die Prävention von sexueller Belästigung und Missbrauch im Arbeitsfeld Kirche geht.
Ich bin mit meinen Vorrednern einig, dass die Kirche oft ein verkrampftes Verhältnis zur Sexualität hat, was ungesund ist. Andererseits muss ich sagen, dass ich auch die Über-Sexualisierung, die man z.B. in der Werbung beobachten kann, nicht sehr gesund finde. Ich befürchte, dass es genau diese Über-Sexualisierung ist, die dazu beiträgt, dass auch Kinder als Objekte sexueller Begierden gesehen werden (und zwar nicht nur von Pädophilen: die meisten sexuellen Übergriffe auf Kinder werden von Männern begangen, die nicht pädophil sind).
Um auf ein paar Einzelpunkte des Threads einzugehen:
Wenn die amerikanischen Studien sagen, dass 4% aller katholischen Priester Kinder sexuell missbraucht haben, dann sind das ganz klar 4% zu viel. Man sollte aber deswegen keine „Sippenhaft“ einführen und diejenigen 96%, die keine Kinder missbraucht haben, gleich mitverurteilen.
Wenn apron vom Schaden schreibt, den die Kirche mit dem „aufbauen von schlechtem gewissen, eintrichtern von falschen moralverstellungen, indoktrinationen, unterdrückung der triebe, unterdrückung der frauen“ angerichtet hat, möchte ich ihn fragen, wann er zum letzten Mal in der Kirche war. Wenn ich predige, ist das kein Aufbauen von schlechtem Gewissen, wenn ich Religionsunterricht erteile, ist dies keine Indoktrination. Die Kirche, oder wenigstens die Landeskirchen in unseren Breitengraden, haben sich von dem verabschiedet, was apron kritisiert. Zugegeben: Leider gibt es bis heute in der Kirche Leute, auf die das von apron gesagte zutritt, und leider trifft man sie auch weit oben in der Hierarchie.
Man sollte aber auch vor positiven Entwicklungen in der Kirche nicht die Augen verschliessen. Das verkrampfte Verhältnis zur Sexualität, von dem ich am Anfang geschrieben habe, existiert zwar immer noch, aber es wird zunehmend besser.
Einige der von gogo angesprochenen Punkte sind ein gutes Beispiel dafür: Vorehelicher Verkehr, Scheidung, Wiederverheiratung Geschiedener, Sex unter Unverheirateten u.a.m. werden in der Kirche heute (wiederum bezogen auf die Landeskirchen unserer Breitengrade) de facto akzeptiert. Sogar die vor einigen Jahrzehnten noch felsenfeste Überzeugung, dass Homosexualität Sünde sei, kommt zunehmend ins Schlingern. Was (noch) fehlt, ist eine überzeugende theologische Aufarbeitung dieser de-facto-Akzeptanz. In den theologischen Handbüchern ist diese Entwicklung zu einem unverkrampften Verhältnis zur Sexualität noch nicht vollzogen.
Die theologischen Handbücher widerspiegeln aber auch eine andere gesellschaftliche Situation. Ich bin mit Charlie einer Meinung, dass die Kirche und ihre Haltung oft einfach das widerspiegelt, was in der Gesellschaft allgemein im Argen liegt. Wenn die Gesellschaft ein verkrampftes Verhältnis zur Sexualität hat, ist es nicht verwunderlich, dass dies auch für die Kirche gilt. Ich versuche aber, dies an Charlies Adresse, kein „neurotischer Kirchenheini“ zu sein und hoffe, im Umgang mit Jugendlichen nicht zu viel zu verbocken.
Was die beiden letzten Punkte von gogo angeht: Die Vorbildfunktion des Klerus ist tatsächlich ein Problem, gerade wenn man die Studien zu sexuellen Übergriffen durch Priester, die in der Diskussion genannt worden sind, bedenkt. Es liegt aber auch ein Problem darin, vom Klerus zu viel zu erwarten. Ich als Pfarrer erlebe oft, dass die Leute (unausgesprochen, oft auch unbewusst) von mir erwarten, ich müsse stellvertretend für sie fromm sein. Sie dürften schon sündigen, aber ich müsse ein Heiliger sein. Charlie hat geschrieben, die Kirche sei eine Projektionsfläche. Ich kann ergänzen: Auch die Person des Pfarrers ist eine Projektionsfläche.
Der Zölibat hat einen seiner Gründe auch in dieser Vorbildfunktion des Klerus: Wenn Sex als etwas Schmutziges angesehen wird, dann sollen doch wenigstens die Priester mit diesem Schmutzigen nicht in Berührung kommen. Dazu kam im Mittelalter ein ganz praktischer Grund: Als die Kirche immer mehr weltliche Macht gewann, wollte man verhindern, dass Priester- und Bischofsdynastien entstehen. Geistliche sollten keine Erben haben, die ihre Position oder ihren Besitz nach dem Tod übernehmen konnten.
Heutige Begründungen für den Zölibat sind vor allem: Der Priester soll ganz für die Kirche da sein, gewissermassen mit ihr „verheiratet“ sein. Ich habe auch schon gehört: Eheleute sollen keine Geheimnisse voreinander haben, aber der Priester muss das Beichtgeheimis wahren, also kann er nicht verheiratet sein. Ich persönlich halte nicht viel von solchen Argumenten. Sie sind theologische Überhöhungen eines veralteten Sexualverständnisses (eben der Sicht, dass Sex grundsätzlich etwas Schmutziges sei).
So, jetzt ist mein erster Artikel hier sehr lang geworden. Danke, wenn Ihr bis hier durchgehalten habt.
Ich werde mich noch weiter umsehen, ob ich noch andere für mich interessante Diskussionen finde. Postings über das Servicegebahren von Ladies, wie apron es ausdrückt, dürft Ihr von mir mangels Erfahrung aber nicht erwarten.
Pax vobiscum,
Amadeus