Ich war heute bei Michelle und habe mich nun doch entschlossen, einen Bericht zu schreiben. Wie bereits geschrieben, halte ich Michelle für eine Künstlerin, daher berichte ich entsprechend über die Stunde, die ich bei ihr war:
- Satz (Ouverture): Moderato
Die Stunde begann mit einer klassischen Massage. Sie war nicht zu kräftig und stürmisch (kein Allegro), aber auch nicht kraftlos oder mechanisch (kein Andante), sondern gemessen (eben Moderato). Überzeugte Forte-Stellen wechselten sich ab mit zurückhaltenden Passagen, die bereits die Themen der folgenden Sätze erahnen liessen. Die Ouverture war eine gelungene Einstimmung, in der der Musikkenner den Lärm des Alltags hinter sich lassen, die Spannungen der Aussenwelt abbauen konnte, um sich auf die Spannungen einzulassen, die die Musikerin in den folgenden Sätzen aufbauen würde.
- Satz: Adagio dolcissimo
Zartes, sanftes Streicheln mit Händen, Zunge und Haar. Besonders bei den Pianissimo-Passagen zeigte sich die wahre Meisterin: auch im Leisen, Sanften erzeugte sie eine warme Klangfarbe und vermochte den Schmelz des „molto espressivo“ perfekt umzusetzen. Ein Satz, bei dem sich jeder Musikliebhaber wünscht, er würde niemals enden.
- Satz: Allegro ma non troppo
Dieser Satz wurde ganz im französischen Stil gespielt. Die Musikerin fand ein gutes Gleichgewicht zwischen den spielerischen Eigenarten dieses Allegros und den melodischen Anklängen an das Thema des vorhergehenden Satzes. Zugleich achtete sie darauf, das „ma non troppo“ ernst zu nehmen und vermied übertriebene Dramatik, die den Musikkenner bereits zu früh und zu stark aufgewühlt und ihm so den Genuss des vierten Satzes verdorben hätte. Die Musikerin verstand es, die Spannungen des Melodiebogens und der Harmonien gekonnt umzusetzen, so dass sich jeder Musikliebhaber nach der Entladung der Spannung im vierten Satz sehnte.
- Satz (Finale): Allegro con fuoco
Feinmassage mit Steigerung bis zum Höhepunkt. Hier durfte die Musikerin endliche ihre ganze Virtuosität ausspielen. Mitreissend interpretierte sie dieses feurige Stück, das sich in einer dramatischen Steigerung ungestüm auf den musikalischen Höhepunkt zubewegte, der keinen Musikliebhaber kalt lassen konnte. Die Musikerin schaffte es, das Drängende dieses Satzes mit gekonnt platzierten Ritenuto-Passagen im Gleichgewicht zu halten, so dass er trotz des stürmischen Grundcharakters nie ungeduldig wirkte. Besonders zu gefallen vermochte dem Kenner das Aufgreifen des Themas des zweiten Satzes, nun aber im schnelleren Tempo.
Als Zugabe wiederholte die Musikerin einige Takte des „Adagio dolcissimo“, von denen sich jeder Musikgeniesser mehr gewünscht hätte.
Alles in allem ein Konzert, bei dem sowohl die technische Virtuosität als auch der musikalische Ausdruck der Künstlerin überzeugten, so dass ihr zweiter Platz beim kürzlich abgehaltenen Musikwettbewerb keineswegs erstaunt.
Charlie