quote:Konkurrenz aus Osteuropa zwingt Prostituierte zu gefährlichen Praktiken
Wieder ein Tag ohne Verdienst. Stundenlang ist Michaela K. die Kurfürstenstraße auf und ab gelaufen. Auf Stöckelschuhen. Im Minirock. Grell geschminkt. 15 Freier haben angehalten. 13 wollten Oralsex ohne Kondom. „Dann schreie ich „Aids - Nein danke“, und knalle die Tür zu. Ich riskier’ doch nicht mein Leben“, sagt Michaela. Die 41-Jährige ist eine Ausnahme auf dem Straßenstrich; viele andere Prostituierte riskieren ihre Gesundheit.
Anke Schmidt kennt Hunderte von ihnen. Sie leitet den Prostituiertentreff Olga an der Derfflinger Straße 19 in Tiergarten. Schmidts Fazit: „Dass man sich vor Geschlechtskrankheiten und Aids schützen muss, ist einfach kein Thema mehr.“ Safer Sex ist unsexy. Ungeschützter Verkehr hat Hochkonjunktur.
Das war nicht immer so. „Als das Thema Aids in den 80er-Jahren hochkochte, haben die Freier von sich aus auf Kondomen bestanden“, erzählt Michaela. Doch seitdem die Grenzen durchlässig sind, bläst den Berliner Huren der Wind hart ins Gesicht: Denn aus Osteuropa kommt die Konkurrenz zum Anschaffen nach Berlin - ohne Kondom. Den neuen Trend erkennt, wer Annoncen studiert: Überall offerieren willige Frauen „Französisch pur“.
„Das ist ungeschützter Oralsex bis zum Samenerguss“, erläutert Nivedita Prasad von Ban-Ying. Seit 20 Jahren betreut der Verein an der Anklamer Straße 38 (Wedding) Opfer von Menschenhandel. Viele Frauen, die an Prasads Tür klingeln, sind Zwangsprostituierte: ihren Zuhältern ausgeliefert wegen illegalen Aufenthalts. „Wir hören immer wieder, dass die Frauen Oralsex ohne Kondom anbieten sollen“, sagt Prasad. Als Opfer von Menschenhandel sind sie nicht in der Position, auf Schutz zu bestehen. Ihre Zuhälter erzwingen Sex ohne Gummi. Eine Praxis, die auch mancher Bordellchef betreibt. Männern, die sich dieser Tage nach Sexspielen in einem Berliner Großbordell erkundigten, wurde „Französisch pur“ angepriesen.
„Viele Frauen, die sich in Bordells bewerben, hören gleich am Telefon, dass sie ,Französisch ohne’ anbieten müssen“, berichtet die Ex-Hure und Puffmutter Felicitas Schirow. Sie betreibt das „Pssst“ in Wilmersdorf. Wer sich dort meldet, wird auf die Safer-Sex-Praxis des Hauses hingewiesen. Aber Schirow lässt ihre Frauen „aus Gründen der Selbstbestimmung“ selbst entscheiden, wie sie arbeiten wollen. „Wir hätten nicht so viele Stammkunden, wenn Safer Sex nicht zufriedenstellen würde.“
Die Aidshilfe predigt seit Jahren, dass Safer Sex vor HIV schützt. Trotzdem steigt die Zahl der HIV-Erstdiagnosen an. 2500 Fälle wies das Robert-Koch-Institut (RKI) im Jahr 2005 deutschlandweit aus. Im vergangenen Jahr waren es 2611, mehr als 15 Prozent der Gemeldeten waren heterosexuell. „Die Infektionen können schon Jahre zuvor stattgefunden haben“, betont Ulrich Markus vom RKI. „Wenn Prostituierte keine Kondome mehr benutzen, kann man das an den Zahlen bei anderen sexuell übertragbaren Krankheiten erkennen.“ Beispiel Syphilis: In Aachen sind im Jahr 2006 von 100 000 Frauen 10,3 an Syphilis erkrankt. Der Grund: Die Krankheit hatte sich in einem Kreis von drogensüchtigen Prostituierten festgesetzt. Zum Vergleich: In Berlin waren 1,3 von 100 000 Frauen infiziert.
Um das Gefahrenbewusstsein zu schärfen, fordern Prostituierte eine Schock-Kampagne der Behörden: „Man sollte ganz konkret auf die Gefahren hinweisen und Praktiken nennen.“ Zudem sollten Prostituierte, die ohne Gummi arbeiten, strafrechtlich verfolgt werden. Michaela: „Immerhin fördern sie die Verbreitung ansteckender Krankheiten.“
Die Prostituierten-Vereinigung Hydra hält davon nichts. „Wir klären die Freier auf“, sagt Marion Detlefs. Dazu besuchen Mitglieder der eigens gegründeten AG „Gesunder Kunde“ Messen. Und blasen - wie am Sonnabend vorm Olympiastadion - vor Fußballspielen Kondome auf.<!-/quote-!>